In diesem Post will ich einige bisher noch unverbundene Gedanken zusammenführen, die sich während der letzten Wochen aufgetan haben.
Statusbeschreibung
In der aktuellen SPIEGEL-Ausgabe (Nr. 11, 13.03.2021) wird im Essay „Der Sound des Abstiegs“ eine düstere Bilanz der Kanzlerschaft von Angela Merkel gezogen. Die leitende These ist, dass Gesellschaften zu bestimmten Zeiten zu satt und zu zufrieden geworden sind und sich deshalb nicht mehr mit Innovationen beschäftigen wollen. Man hat sich im Status quo bequem eingerichtet und verwaltet mehr als die Zukunft zu gestalten. Stattdessen wird versucht, die Zeit anzuhalten und den erreichten Wohlstand zu genießen.
Diese Haltung wird durch die Corona-Krise schonungslos aufgedeckt und überlagert das positive Gefühl, das man bisher von der „mit Abstand größten Volkswirtschaft der Europäischen Union“ hatte. Nicht überraschend betrifft die Selbstgenügsamkeit insbesondere die digitale Transformation. In mehreren Rankings (z.B. Digital Riser Report) findet sich Deutschland auf den hinteren Plätzen wieder und die Versäumnisse der Vergangenheit werden deutlich. Das Erbe der Kanzlerschaft Merkels ist im Bereich von Technologie und Infrastruktur ähnlich wie bei Kohl (siehe dazu die pointierte Analyse im ZDF Magazin Royale) dürftig.
Warum das so ist, macht der SPIEGEL-Essay an einem Punkt überzeugend deutlich. Dabei geht es um die Reaktorkatastrophe von Fukushima vor zehn Jahren und den raschen Entschluss von Merkel zum Ausstieg aus der Atomenergie. Dahinter stand die Angst vor den Gefahren der Atomkraft, die seit dem ersten Einsatz von Atomwaffen 1945 und weiter im Kalten Krieg bestand. Soweit so vernünftig. Allerdings war die Abkehr vom der Atomenergie 2011 nicht mit einer positiven Vision als Alternative für die Zukunft verbunden: „Es ging mehr um einen Bruch mit dem Vergangenen als um einen Aufbruch in die Zukunft (…)“.
Den zweiten Teil des Satzes – fehlender Aufbruch in die Zukunft – ist auch im Bildungsbereich zu sehen. In mehreren Post habe ich bereits zum krampfhaften Festhalten der Kultusminister:innen am Präsenzunterricht geschrieben. Es scheint somit auch noch nicht zum Bruch mit der Vergangenheit gekommen zu sein. Das Ideal der Präsenz ist immer noch die wirkmächtigste Erzählung, wenn es um Schule geht. Diese besagt, dass am Besten unter Aufsicht und in zeitlicher und räumlicher Synchronität gelernt werden kann. Das Modell, das Ende des 18. Jahrhunderts etabliert wurde, gilt bis heute. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Ich will damit nicht sagen, dass Präsenz als historischer Ballast über Bord geworfen werden muss. Im Gegenteil: Es ist eine kulturelle und bildungspolitische Errungenschaft, die nun aber im Kontext sich grundlegend geänderter Rahmenbedingungen neu austariert werden muss. Dazu gehört für mich ein deutlicher Bezug zum bildungsphilosophischen Erbe, das sich in bestimmten Vorstellungen zum Menschenbild und zur Gesellschaft äußert. Bei den Schulreformen Anfang des 19. Jahrhunderts in Preußen lässt die Verknüpfung von Bildungstheorie und Schulpraxis zeigen.
In die Zukunft getrieben
Die aktuelle Situation im Bildungsbereich ist, wie oben anhand der Schule argumentiert, dadurch gekennzeichnet, dass einerseits keine kritische Bilanz mit der Vergangenheit gezogen wird und andererseits keine positiv besetzte Vision für die Zukunft vorliegt. Moment mal, es gab doch Ende Februar eine sehr prominent besetzte Auftaktveranstaltung zur „Initiative Digitale Bildung“ (für kritische Zusammenfassungen siehe hier und hier) und sprach dort nicht die Bildungsministerin über die Digitalisierung als „gigantisches Individualisierungsprojekt“? Es wurde auch viel über den Spaß am Lernen berichtet, der mit Apps und smarten Lernplattformen wieder gewonnen werden könne.
Doch bei genauerem Hinsehen, sind diese Visionen weniger Ausdruck bildungsphilosophischen Überlegungen, sondern folgen verzweifelt einer bestimmten Lesart der Digitalisierung. Dabei geht es – verkürzt gesagt – um das Aufspringen auf den „Hype-Train“ aus KI, Blockchain und Cloud. Wo doch alle Welt schon seit einiger Zeit darüber spricht und es nun durch die COVID-19-Pandemie klar geworden ist, dass es kein Zurück zu den alten Ansätzen mehr geben kann. Also möglichst schnell anfangen und eine Datenstrategie, High-Tech-Strategie und Blockchain-Strategien schreiben, denn das signalisiert Aufbruchstimmung und Veränderungswillen.
Die politische Gestaltung beschränkt sich allerdings weitgehend auf Anpassungen an die Bedingungen der Digitalisierung, die wie eine autonome, externe Kraft über uns kommt. Unbestritten ist die digitale Transformation eine solch gewaltige „Erscheinung“, dass man zum grundlegenden Nachdenken über die Organisation gesellschaftlicher Bereiche gezwungen ist. Aber warum dies nicht zu einem breiteren gesellschaftlichen Dialog führt, sondern als technokratisches Projekt angegangen wird, erschließt sich mir nicht.