Home-, Un- oder Deschooling: Alternativen zur Schule #100DaysToOffload

Heute schreibe ich wieder zum Thema Schule. Denn es bleibt weiter spannend bzw. ärgerlich, wie es mit den Schulen nach Ende des Lockdowns (noch ist das der 10. Januar) weitergeht.

Die KMK geht gemäß dem gestern veröffentlichten Beschluss zur Wiederaufnahme des Schulbetriebs weiterhin von der „großen pädagogischen Bedeutung des Präsenzunterrichts für die Schülerinnen und Schüler“ aus. Das ist nicht überraschend, sondern ist seit Beginn der Pandemie ein unhintergehbarer Konsens. Begründet wird dies mit dem „Recht auf Bildung“, wozu ich hier schon was gesagt habe.

Am gleichen Tag wie die KMK-Pressemitteilung erschien im Tagesspiegel ein Kommentar, der eine Abrechnung des Versagens der Kultusminister:innen in den letzen Monaten ist. Das Recht auf Bildung wird dabei als „verlogener Pathos“ bezeichnet, da:

In zahlreichen Studien ist Deutschland nachgewiesen worden, dass es auch mit Präsenzunterricht in kaum einem anderen Staat so wenig Bildungsgerechtigkeit gibt wie hierzulande. Läge diese den Ministern am Herzen, hätten sie alles getan, um Schule pandemiesicher zu machen. Genau das haben sie versäumt – und Kindern und Jugendlichen damit das Recht auf Bildung erst recht genommen. Ein Versagen, das noch nachwirken wird, wenn die Pandemie vorbei ist.

Quelle

Ähnlich äußert sich auf Twitter eine Lehrerin.

Es ist also nicht einfach so, dass mit Schulen und der Pflicht zur regelmäßigen Teilnahme am Präsenzunterricht das Recht auf Bildung realisiert wird. Denn Schule hat nicht nur pädagogische, sondern auch eine gesellschaftliche Funktion. So lässt sich etwa die Obsession der Schule mit Prüfungen und Leistungsmessungen als Vorbereitung für das Leben in der (spät-)kapitalistischen Gesellschaft verstehen.

Wenn man die Umsetzung des Rechts auf Bildung, so wie es die Bildungspolitik einfordert, ernst nimmt, sollte man auch über Alternativen zum Schulmodell nachdenken. Die gibt es tatsächlich, sind aber in Deutschland aus bestimmten Gründen nicht sehr präsent in der Diskussion.

Homeschooling

Der Hausunterricht ist eine Erziehungsform, bei der Kinder zu Hause oder an einem anderen Ort, allerdings außerhalb der Schule, von Eltern oder Privatlehrenden betreut werden. Ein Pionier dieser Form war der Pädagoge John Holt, der in den 1970er-Jahren in den USA das Homeschooling stark vorangetrieben hat (z.B. mit der Veröffentlichung von „Teach your Own“). Ausgangspunkt bei Holt war die Erkenntnis, dass viele Kinder im Laufe der Schulzeit ihrer anfängliche hohe intrinsische Motivation verlieren und die Schule mit negativen Emotionen zu verknüpfen beginnen. Da Kinder jedoch in aller Regel von sich aus lernwillig und neugierig sind, scheint das Problem die Schule und das für sie typische disziplinarische Regime zu sein. Darum geht es beim Homeschooling darum, Kindern wieder Freude beim Lernen zu geben und weniger Zwang und Überwachung walten zu lassen. Das scheint auch durchaus zu funktionieren, wie ein Blick in die empirische Forschung zeigt. So berichtet dieses Review, dass Home-Schüler:innen bei der Aufnahme an die Hochschule als sozial und akademisch ausreichend vorbereitet angesehen werden und mit den Anforderungen des Studiums zurecht kommen. Sie wären mindestens genauso gut vorbereitet wie die Absolvent:innen der öffentlichen High Schools. Gleichzeitig bestehen jedoch weiterhin Herausforderungen einer substantiellen Forschung zu den Effekten des Homeschooling.

In Deutschland ist Homeschooling – außerhalb von Krisenzeiten – nicht erlaubt. Dennoch gab es in den vergangenen Jahren immer wieder rechtliche Auseinandersetzungen, oftmals mit Eltern religiöser Gemeinschaften, die ihre Kinder nicht der Schullehre zur Evolutionstheorie aussetzen wollen. Aber auch Eltern mit einschlägiger Erfahrung (z.B. Sozialarbeit) haben viel daran gesetzt, der Schulpflicht zu entgehen. Letzter Ausweg kann die Flucht nach Österreich sein, das Homeschooling erlaubt, solange die am Ende eines Schuljahres eine Prüfung erfolgreich absolviert wird. Falls nicht, muss das Kind in die Schule.

Die harte Haltung Deutschlands gegenüber Homeschooling zeigt übrigens ein FAZ-Artikel vom 22.03.2007 (Paywall). Dabei ging es um den Bericht des UN-Sonderberichterstatters und dessen scharfe Kritik am deutschen Bildungssystem („Chancengleichheit“). Daraufhin warnte der damalige KMK-Präsident vor einer „neuerlichen Diskussion über die Schulformen“ und hielt auch den Vorschlag, Homeschooling zuzulassen für abwegig.

Auch in der Folgezeit ebbte die Diskussion zum Homeschooling nicht ab, wie sich anhand der Berichterstattung der FAZ illustrieren lässt:

  • FAZ, 04.11.2007: Warum ist die staatliche Schulpflicht unnötig?; Deutschland ist mit seiner absoluten und strafbewehrten Schulpflicht eher die Ausnahme im internationalen Vergleich; als ein Grund werden die Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus vermutet, so dass Erziehung zur Demokratiefähigkeit nur durch den Staat zu organisieren sei.
  • FAZ, 03.02.2008: Daheim unterrichten: „Offenbar ist der Bedarf an pädagogischen Alternativen zum staatlichen Schulangebot nicht gedeckt. Immer wieder sehen Eltern keinen anderen Weg, als ihre Kinder daheim selbst zu unterrichten, was sie nicht dürfen.“
  • FAZ, 30.06.2008: Sollte Heimunterricht erlaubt werden?
  • FAZ, 07.12.2009: Unterricht zu Hause in Hessen erlauben?
  • FAZ, 07.03.2010: „Wie in einer Diktatur“; in der Headline heißt es weiter: „Für das Homeschooling-Verbot gibt es kaum plausible Argumente. Und die Gegner der deutschen Schulpflicht sind mitnichten immer nur religiöse Sektierer. Wozu die Härte?
  • FAZ, 08.12.2010: „Unsere Kinder leben im Verborgenen“; und weiter: „Heimunterricht ist in Deutschland verboten. Hunderte Familien unterrichten ihre Kinder trotzdem zu Hause.“
  • FAZ, 20.06.2011: „Homeschooling ist keine Parallelgesellschaft“
  • FAZ, 22.05.2013: Schulverweigerer zu Geldstrafe verurteilt; ein Ehepaar aus Hessen hat mehrere ihrer Kinder zu Hause unterrichtet, von denen laut Artikel mehrere Schulabschlüsse und Berufsausbildungen haben
  • FAZ, 06.12.2014: Zum Lernen braucht’s die Schule nicht; zitiert wird der Präsident des Lehrerverbands mit der Angst vor privat organisierten Koranschulen. Darauf entgegnet eine ehemalige Lehrerin, dass dies ein Popanz wäre und empirisch nicht belegbar
  • FAZ, 31.03.2018: Kommt, wir machen das jetzt einfach! Bericht über eine Langzeitreise mit Kindern und den Umgang mit der Schulpflicht
  • FAZ, 07.02.2019: Neue Schulen braucht das Land; zum „Ruck“ bzw. Aufbruchstimmung von Eltern zur Gründung alternativpädagogischer Einrichtungen

Es ist schon erstaunlich, wie durchweg positiv „Homeschooling“ in der FAZ präsentiert wurde und wie wenig Nachhall dies in der Bildungspolitik hatte.

Unschooling

Noch einen Schritt weiter geht eine Bewegung, die sich damit auch von dem teilweise hohen Einfluss der religiösen Rechten in den USA abgrenzen will. Die disziplinären Wirkungen der Schule durch feste inhaltliche und zeitliche Einteilungen wird beim Unschooling umgangen. Stattdessen soll die menschliche Neugier als „Lehrmeister“ dienen und Lernen stärker mit Alltagstätigkeiten wie Backen oder Kochen verbunden werden. Hier sind klare Anleihen an der Reformpädagogik zu erkennen.

Deschooling

Dieses Konzept ist untrennbar mit Ivan Illich, einem aus Österreich stammenden Theologen und Philosophen. 1971 verfasste er eine Streitschrift und rief zur Abschaffung der Schulen auf. Dabei geht es grob gesagt um gesellschaftlichen Fortschritt durch andere Schulen, die von den gemeinsamen Interessen der Lehrer:innen, Schüler:innen und Eltern ausgehen.

In den 1970er-Jahren war das ein angesagtes Thema und ist zu einem wichtigen Baustein Kritischer Pädagogik geworden. Das akademische Interesse scheint auch abgenommen zu haben, so spricht diese Dissertation vom „Ende der Entschulungsdiskussion“.

Gleichwohl lohnt es sich, die Kernargumente von De- oder Unschooling sich auch heute vor Augen zu führen, gerade vor den Erfahrungen mit der Schulpolitik.

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